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Samuels Oberschenkel erkennen.
Die Narbe, die er bekam, als sich bei einem schweren
Sturm vor den Hebriden eine Ladeluke löste und Papa Sa-
muel fast das halbe Bein abgerissen hätte.
Diese Narbe schenkt er Sara...
Ein unendlicher, trauriger Schmerz senkt sich auf Joel
nieder, wie er da auf der Leiter balanciert. Es ist, als ob es
ihn nicht mehr gäbe, als ob er dazu verurteilt wäre, tau-
send Jahre auf der Leiter zu stehen, durchgefroren und
starr.
Warum wird er immer verlassen? Er hat doch niemanden
verlassen. Er ist ja sogar seine eigene Mama.
Wie lange er auf der Leiter steht, weiß er nicht. Aber er
steigt nicht eher nach unten, bis die Trauer nicht langsam
Verachtung und Wut Platz macht.
Er klettert nicht eher wieder nach unten, bevor er sich
stark genug fühlt für die Rache.
An der Hauswand kratzt er einen Stein aus dem Schnee.
Er ist nicht groß, gerade halb so groß wie seine Faust,
aber für seine Zwecke reicht es.
Jetzt kommt es nur darauf an, daß er sein Ziel auch
trifft.
Einmal kann er werfen, nicht öfter. Wenn er nicht trifft
und noch einmal wirft, wird er entdeckt.
Es macht natürlich gar nichts, wenn er entdeckt wird.
Aber er will es trotzdem nicht. Der erste Stein muß tref-
fen. Joel zielt. Den Fäustling hat er ausgezogen, den eis-
kalten Stein hält er in der steifgefrorenen Hand.
Dann schleudert er ihn, und als der Stein davonfliegt, be-
reut er es einen Augenblick lang. Aber der Stein trifft mit-
ten ins Fenster, und die Scheibe zerbricht mit einem
Knall, der über den Hof hallt.
Dann läuft Joel davon, so schnell er kann. Um die Leiter
kümmert er sich nicht mehr. Es geschieht Sara ganz recht,
wenn sie dem Eisenwarenhändler erklären muß, wie die
Leiter unter ihr Fenster gekommen ist.
Joel bleibt erst stehen, als er zu Hause ankommt. Der Hals
tut ihm weh von der kalten Luft. Nachdem er ein bißchen
Atem geschöpft hat, tappt er an der Tür der alten Westman
vorbei. Hoffentlich erzählt sie Papa Samuel nicht, daß er
heute nacht unterwegs gewesen ist. Sonst wird Papa Sa-
muel alles durchschauen.
Aber der Gedanke macht Joel nur ein wenig Angst.
In der Wohnung knipst er erst einmal überall Licht an, ehe
er sich mit steifgefrorenen Fingern die Stiefel aufschnürt.
Eins der Bänder hat sich so verknotet, daß Joel es nicht
mehr lösen kann. Da nimmt er das Brotmesser und schnei-
det das Band durch. Er zieht sich aus und kriecht ins Bett,
um wieder warm zu werden.
Von nun an wird er nicht mehr Papa Samuel sagen. Jetzt
wird er ihn nur noch Samuel nennen.
Plötzlich gefällt es ihm nicht mehr, daß er überall Licht
angelassen hat. Er steht noch einmal auf und macht es aus.
Dann kriecht er wieder in sein Bett und wartet, wartet dar-
auf, daß Samuel nach Hause kommt. Aber er ist so müde,
seine Augen fallen ihm zu, er schläft ein.
Seine Träume sind unruhig, scheußlich, endlos. Träume,
an die er sich nicht erinnern wird...
Als er am Morgen erwacht, ist Samuel schon in den Wald
gegangen. Joel steht in der Tür zur Küche und sieht, daß er
jedenfalls zu Hause gewesen ist und Kaffee gekocht hat.
Der Herd ist auch noch warm.
Joel ist müde. Wenn er nicht zu spät in die Schule kommen
will, muß er sich beeilen. Aber draußen in der kalten Däm-
merung beschließt er, nicht in die Schule zu gehen. Er kann
nicht, er muß nachdenken.
Ohne zu wissen, warum, schlägt er die Richtung nach
Norden ein. Zuerst den langgezogenen Hügel zum Bahn-
hof hinauf. Dahinter liegt das Krankenhaus, und dann be-
ginnt der Wald. In einer kleinen Senke an der Straße, einge-
bettet in dichtstehende Tannen, liegt das Haus vom alten
Maurer. Es ist eine heruntergekommene Schmiede, die er
zur Wohnstatt umgebaut hat. Der Hof ist bedeckt von
Schrott und verwilderten Johannisbeerbüschen.
Joel steht auf der Straße und versucht, die dichten Tannen
mit Blicken zu durchdringen. Er sieht die Lasterspuren im
Schnee. Plötzlich ruft jemand nach ihm.
»Komm mal her!« sagt jemand. »Komm her und hilf
mir.«
Er sieht sich um. Aber da sind nur Bäume. Tannen mit
schweren Schneelasten auf ihren Zweigen.
»Ich brauch Hilfe«, hört er die Stimme wieder sagen.
Und da entdeckt er den alten Maurer, der zwischen zwei
dicken Tannen hervorschaut. Er winkt Joel zu.
Zögernd geht Joel näher.
Der alte Maurer tritt zwischen den beiden Tannen hervor.
Er hält ein langes, dickes Tau in der Hand.
Joel denkt, daß sein Name so richtig zu ihm paßt. Ein
Mann, der Simon Urväder heißt, muß aussehen wie der
alte Maurer. Er hat große Zahnlücken im Mund. Buschige
Augenbrauen klammern sich wie Kletterpflanzen um seine
Augen. Und er hat einen bohrenden, stechenden Blick, so
als ob er geradewegs durch einen hindurchschauen
könnte.
Der alte Maurer ist in einen riesigen Pelz gehüllt, in den die
Motten große Löcher gefressen haben. An einem Fuß trägt
er einen Stiefel, an dem anderen einen Skistiefel mit Spikes
unter der Sohle.
Der alte Maurer ist Joels Blick gefolgt.
»Du guckst auf meine Füße«, sagt er. »Die Leute kapieren
nicht, was zu ihrem Besten ist. Mit dem Stiefel kann ich
gleiten, mit den Nägeln hab ich Halt auf dem Eis. Wer hat
eigentlich gesagt, daß man gleiche Schuhe tragen soll ? Steht
das in der Bibel ? Hat der Staatsanwalt das Recht, Leute zu
verhaften, die verschiedene Schuhe tragen? Nee, du. Nicht
mal die Füße sind gleich. Jetzt halt mal das Tau fest!«
Er stopft Joel das eine Tauende in die Hand und verschwin-
det wieder zwischen den Tannen. Plötzlich spannt sich das
Seil, und der alte Maurer kommt durch den Schnee zurück-
gestapft. Er nimmt Joel das Seilende ab und legt es straff
gespannt in den Schnee. Die ganze Zeit murmelt und
schnauft er vor sich hin.
»Was machst du da ?« fragt Joel.
Der alte Maurer sieht ihn erstaunt an.
»Was ich mache?« sagt er. »Ich lege ein Seil in den Schnee.
Ich finde das hübsch. Ich mach nur Sachen, die schön sind.«
Plötzlich sieht er traurig aus. »Findest du es nicht schön?«
fragt er.
»Doch«, antwortet Joel, »sehr schön.«
Der alte Maurer legt sich in den Schnee und streckt sich aus,
wie man sich an einem Sommertag in der warmen Heide
ausstreckt.
»Ich fühl mich nicht mehr so allein, wenn ich etwas Schö-
nes mache«, sagt er. »Das ist meine Medizin. Ich bin so
lange krank gewesen. Erst als ich angefangen hab, schöne
Sachen zu machen, da bin ich wieder gesund gewor-
den...«
Er ist verrückt, denkt Joel. Kein gesunder Mensch legt ein
Tau in den Schnee und denkt, das ist schön.
»Die Erde ist rund«, sagt der alte Maurer. »Sie dreht und
dreht sich im Kreis. Manchmal wird mir schwindlig, und
dann muß ich mich in den Schnee legen und meinen Kopf
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